Erstellt von Redaktion am 27. April 2024
Von Naisan Raji, LAG Linksrum Hessen
Beitrag für Forum 2 im Plenum: Wie kam es zur Existenzkrise der LINKEN?
– Zweiter „Was tun?!“-Kongress am 2. Dezember 2023, Frankfurt am Main
Warum dieses Forum?
Es besteht kein Zweifel, dass dieses Land eine „politische Kraft (braucht), die klar und deutlich für Frieden und internationale Zusammenarbeit, für soziale Sicherheit (…) und für mehr Freiheit und Demokratie in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft eintritt. Eine Kraft, die den Kapitalismus überwinden und eine selbstbestimmte Entwicklung für alle Völker ermöglichen will.“ (1) So lautete es in der Abschlusserklärung des Kongresses im Mai und das ist ein halbes Jahr später nicht weniger aktuell. Viele Vorredner haben ausgeführt, dass DIE LINKE eine solche Kraft in zunehmendem Maße, manche meinen, überhaupt nicht mehr ist. In der Debatte ist deutlich geworden, dass viele die Hoffnung hegen, dass sich in der Partei, deren Gründung aus dem Bündnis Sahra Wagenknecht derzeit vorbereitet wird, eine solche politische Kraft realisiert.
Sich doch noch einmal mit der der LINKEN zu beschäftigen ist notwendig, da
1. einige von uns immer noch in der LINKEN sind und dort für eine bessere Politik kämpfen, aber auch um
2. zu verstehen, welche Faktoren die Entwicklung der LINKEN zu einer angepassten Partei am linken Rand des herrschenden Blocks begünstigt haben, und
3. welche inhaltlichen und organisatorischen Schlüsse daraus zu ziehen sind.
Einige Feststellungen
Für eine kleine Partei mit derzeit etwa 55.000 (2) Mitgliedern hat DIE LINKE einen recht großen Parteiapparat.
Etwa 2300 Personen leben nach einer Schätzung von Volker Külow aus dem Jahr 2020 von der Partei (3). In den vergangenen 10 Jahren gab es eine deutliche Professionalisierung der LINKEN bezogen auf den bürgerlichen Politikbetrieb, manche charakterisieren die LINKE in dieser Hinsicht schlicht als langweilig. Es gab den Abbau von marxistischer Bildungsarbeit bei gleichzeitiger Ersetzung selbiger durch Workshops für Methoden und Techniken der politischen Arbeit (z.B. Haustürwahlkampf). Bei der Besetzung von Posten spielt die Beherrschung dieser Techniken eine größere Rolle als die Befähigung gesellschaftliche Prozesse zu erkennen.
Die materielle Basis der Krise der LINKEN
In den letzten Jahrzehnten sind zentrale Lebensbereiche dem Finanzkapital untergeordnet worden. Gesundheit, Wissenschaft, Bildung und Probleme des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses wie Pflege und Erziehung sind profitorientiert organisiert worden. In den ersten Jahren nach der Fusion hat DIE LINKE mit einer klaren Zuspitzung gegen neoliberale Politik Wahlerfolge feiern können. Unter Lohnabhängigen und Erwerbslosen gab es Zuspruch. Auch in der Öffentlichkeit wurde sie wahrgenommen und hat gesellschaftliche Debatten prägen können. Trotz der Anziehungskraft, die DIE LINKE in diesen Jahren ausstrahlte, gab es keine substantiellen Rücknahmen neoliberaler Deregulierung und Privatisierung. Darauf und auf die mittelfristigen gesellschaftlichen Folgen dieser Politik hat DIE LINKE in den 2010er Jahren keine adäquate Antwort gefunden. Das betrifft die nachhaltig beschädigte Bereitschaft zur politischen Beteiligung derjenigen, die durch die Politik der Agenda 2010 am meisten benachteiligt wurden. Das betrifft aber auch, weil es sich um einen internationalen Prozess der Herausbildung transnationaler Monopole handelte, auch die Zunahme von Aufrüstung, Militarismus und Krieg. Eine weitere unterbelichtete Konsequenz von Jahrzehnten neoliberaler Politik ist die Herausbildung neuer Fraktionen innerhalb der arbeitenden Bevölkerung.
Zusätzlich zum klassischen Industrieproletariat, den durch Ökonomisierung der Landwirtschaft proletarisierten Beschäftigten in der Landwirtschaft und dem Dienstleistungsproletariat in klassischen Ausbildungsberufen oder mit akademischen Laufbahnen hat sich eine neue Fraktion gut qualifizierter Akademiker herausgebildet, die die sozialen Konsequenzen neoliberaler Politik individuell zu umgehen versucht: Starke Arbeitsbelastung trifft auf individuelle Arbeitszeitverkürzung und Verlagerung von Arbeitszeit ins Home Office, damit die Reproduktion der eigenen Arbeitskraft angenehmer gelingt. Darin bestand ein zentraler sozialer Widerspruch in der Pandemiezeit, weil objektiv einige Beschäftigungsgruppen hervorragend mit Lockdowns leben konnten, während die Pandemiepolitik anderen an die Existenz ging. Erstere streben häufig nach Beschäftigungen, in denen sich das Ausmaß an entfremdeter Arbeit in Grenzen zu halten scheint, etwa in Medienunternehmen, Nichtregierungsorganisationen oder im Umfeld der Politik, zunehmend auch in den Gewerkschaftsapparaten. Sahra Wagenknecht gehörte zu den ersten, die diese Lohnabhängigenfraktion im deutschsprachigen Raum ausführlich beschrieben hat. Sie hat für diese Personengruppe den Begriff Lifestyle-Linke eingeführt. International hat Nancy Fraser mit ihrer Beschreibung des progressiven Neoliberalismus zur wissenschaftlichen Debatte beigetragen.
Es ist der LINKEN häufig vorgeworfen worden, sie habe sich von Klassenpolitik und von der sozialen Frage abgewendet. Tatsächlich ist es aber so, dass sie sich im Profil und in ihrer realen Politik den Interessen dieses Teils der Lohnabhängigen angenähert hat. Das liegt daran, dass der Parteiapparat selbst von dieser Fraktion durchsetzt ist. Wenn Personen, die nach Beendigung eines geisteswissenschaftlichen Studiums ohne marxistische Inhalte und ohne sich in reale gesellschaftliche Auseinandersetzungen begeben zu haben – und da reicht es nicht, auf einer Streikkundgebung performativ eine Fahne zu schwenken – wenn man mit einem solchen Werdegang Hauptamtlicher in einer Partei ohne systematische Bildungsarbeit wird, dann ist es eine Sache des Zufalls, sich zu einem klassen- und traditionsbewussten Genossen zu entwickeln.
Im Apparat sitzen etliche, die eine berufliche Karriere jenseits der LINKEN nicht kennen. Es hat sich damit eine Kraft innerhalb der LINKEN etabliert, deren Ziel, allen verbalradikalen Bekenntnissen von verbindender Klassenpolitik zum Trotz, nicht die Stärkung der realen und der gesamten Arbeiterklasse ist, sondern die Verbesserung der eigenen Konkurrenzfähigkeit innerhalb der arbeitenden Bevölkerung. Das erklärt bürgerlich-feministische Forderungen nach der Erhöhung des Frauenanteils in der Leitung kapitalistischer Konzerne oder in der neoliberalen Hochschule und der Verwaltung von Armut in politischen Ämtern. Ebenso verhält es sich mit ähnlichen Forderungen von gut ausgebildeten Personen mit Migrationshintergrund.
Die beschriebenen Kräfte gesellen sich innerhalb der LINKEN zu jener älteren Fraktion der Regierungslinken, die Mitverantwortung trägt für die Herausbildung einer Repräsentationslücke im Parteiensystem, die entsteht, wenn oppositionelle Politik ersetzt wird durch eine bestenfalls oppositionelle Sprache. Nach zwei Amtszeiten Verwaltung kapitalistischer Zustände durch Ramelow als Ministerpräsident droht die AfD stärkste Kraft in Thüringen zu werden. Wer das auf die Flüchtlingskrise, Pandemie oder Energiekrise – oder wahnhaft auf Sahra Wagenknecht – zurückführen will, der negiert, dass es auch schon lange vor Ramelows Amtsantritt heftige Diskussionen über Kosten und Nutzen linker Regierungsbeteiligung in Zeiten von Sozialabbau und globaler Aufrüstung gab und dass viele innerhalb unserer Partei vor einem Bedeutungsverlust der LINKEN gewarnt haben.
Warum weiter in der LINKEN?
Es stellt sich die Frage, warum Sozialisten unter den geschilderten Umständen noch Mitglied in der LINKEN sein sollen. Aus der LINKEN auszutreten, mag für einen Moment eine befreiende Wirkung haben, aber es bedeutet, das Feld denen zu überlassen, die mit Vergnügen unsere Austrittsschreiben verwenden, um Mitglieder der Grünen oder aus dem linksradikalen Milieu abzuwerben. Es bestehen überhaupt keine Illusionen über den Zustand der Partei. Nach einem Austritt bleibt aber nur noch, vom Spielfeldrand zu kommentieren und den in der LINKEN verbliebenen sozialistischen Genossinnen und Genossen liebgemeinte Ratschläge zu geben. Das tun nicht wenige und das zeigt, dass man zwar erwartet, dass in der LINKEN noch gearbeitet wird, gleichzeitig schwächt man mit dem eigenen Rückzug faktisch diejenigen, die noch in der LINKEN streiten. Ich weiß, dass viele gehen und zum BSW übertreten wollen. Es wird gleichzeitig bemängelt, dass es kaum möglich sei, sich am Aufbau dieser Kraft zu beteiligen.
Manche Kommentare zum langsamen und kontrollierten Wachstum deuten darauf hin, dass das auch nicht überall erwünscht ist. Als Sozialist und Kriegsgegner ist für mich keine Option, auf gut Glück in die Parteilosigkeit zu gehen.
Schlussbemerkung
Es geht bei der aktuellen gesellschaftlichen Zerrissenheit nicht nur um den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, der immer zentral ist. Es geht bei allen Zerwürfnissen der letzten Jahre auch um den Unterschied innerhalb der arbeitenden Bevölkerung zwischen denen einerseits, für die die Fragen Essen, Schlafen, Kleidung und Heizen entweder schon lange oder allmählich keine Selbstverständlichkeiten mehr sind und denen, die diese Angelegenheiten für sich gelöst sehen. Die Herrschenden fahren zweigleisig: Sie treiben einerseits einen Spaltkeil in die Klasse der Lohnabhängigen. Das ist in der Sache nicht neu und das gilt es in den jeweils neuen Erscheinungsformen zu erkennen. Gleichzeitig wird die terroristische Option offengehalten. Dass die digitalen Kommentarspalten voll sind mit Aufrufen zu Vergewaltigung und Mord, sollte uns zu denken geben. Wir müssen darum streiten, dass im Mittelpunkt linker Politik die gemeinsamen Interessen der arbeitenden Bevölkerung liegen bei Fokussierung auf die Verlierer der letzten Jahrzehnte. International brauchen wir einen Ausgleich der Interessen, um die Weltkriegsgefahr zu bannen. Wer dafür vorerst noch in der LINKEN streiten will, ist herzlich eingeladen, im Forum 2 u.a. mit Volker Külow und Gerdt Puchta zu diskutieren, wie die weitere Arbeit innerhalb der LINKEN aussehen kann.
Fußnoten:
(1) Abschlusserklärung Was tun?!-Kongress am 6.5.2023 in Hannover
(2) Umfrage Mitgliederentwicklung Die LINKE
(3) Ekkehard Lieberam (2020). „Sisyphos lässt grüßen“. Die Leiden der Linken und das Leiden an der LINKEN, pad-Verlag.