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Geopolitik – Im Kampf gegen Moskau – 75 Jahre nach ihrer Gründung sind die Fronten der NATO wieder die gleichen wie anno 1949

Erstellt von Redaktion am 8. April 2024

Geopolitik
Im Kampf gegen Moskau
75 Jahre nach ihrer Gründung sind die Fronten der NATO wieder die gleichen wie anno 1949

Von Jörg Kronauer

Francois Lenoir/REUTERS

Unter diesem Banner sollt ihr siegen. Die NATO wähnt sich als Verteidigerin der Freiheit – Freiheit, die sie meint
Jörg Kronauer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 26. Oktober 2023 zum geplanten Freihandelsabkommen zwischen EU und Mercosur.

Die Vorbereitungen für den Jubiläumsgipfel, der im Juli in Washington stattfinden soll, laufen auf vollen Touren. Die NATO zelebriert ihr 75jähriges Bestehen, und – den Eindruck sucht das Bündnis jedenfalls zu erwecken – strotzt nur so vor Kraft. Sie hat soeben zwei neue Mitglieder in Nordeuropa aufgenommen und läuft sich für einen möglichen Krieg gegen Russland warm. Sie streckt ihre Fühler sogar in die Asien-Pazifik-Region aus, um in einem etwaigen Waffengang des Westens gegen die Volksrepublik China nicht tatenlos am Rande zu stehen. Dass die NATO heute wieder so protzen kann, ist nicht selbstverständlich. Nach ihrem Sieg im Kalten Krieg durchlief sie Phasen der Krise, in denen es für sie nicht rund lief, in denen manche sogar ihren Bestand in Frage stellten. Es ist ihr jedoch gelungen, diese Phasen zu überwinden, und wenngleich innere Konflikte sie auch heute prägen – vielleicht stärkere denn je zuvor –, so gibt es aus Sicht des transatlantischen Establishments doch allen Grund, ihr 75jähriges Bestehen zu feiern.

Gründungszwecke
Als sich am 4. April 1949 in Washington mit der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrags die NATO gründete, da verfolgte das Bündnis nicht eines, sondern gleich mehrere Ziele. Die zwölf Staaten, die sich da zusammentaten – die Hälfte aktive Kolonialmächte, darunter mit Portugal eine faschistische Diktatur, und das alles unter Führung der USA, die sich eine offen rassistische Diskriminierung ihres schwarzen Bevölkerungsteils leisteten –, hatten es nicht nur darauf abgesehen, die Sowjetunion einzudämmen, ja, sie nach Möglichkeit sogar niederzuwerfen. Es ging auch darum, das konstatiert das Bündnis in einer Selbstdarstellung, »das Wiederaufleben des nationalistischen Militarismus in Europa durch eine starke nordamerikanische Präsenz zu unterbinden« sowie die »politische Integration Europas« zu fördern. Mit »nationalistischem Militarismus« war Deutschland gemeint, das in zwei Weltkriegen den Aufstieg zur Weltmacht angestrebt hatte und dies nicht zum dritten Mal tun sollte. Der erste NATO-Generalsekretär, Lord Hastings Lionel Ismay, brachte die Dinge trocken auf den Punkt: Das Bündnis sei dazu da, erklärte er in einem berühmt gewordenen Diktum, »die Sowjetunion draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten«.

Das gelang, und es gelang so gut, dass am Ende die Sowjetunion und ihr Bündnissystem, die Warschauer Vertragsorganisation, umfassend kollabierten. Auch Deutschland hatte man durch Einbindung in den Westen vom dritten Anlauf zur Weltmacht abhalten können – vorläufig jedenfalls. Mit der Gründung zunächst der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), dann der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hatte die Bundesrepublik jedoch im Laufe der Jahre ein rein europäisches Bündnis erhalten, in dem sie ökonomisch klar den Ton angab. Dass man darauf achten müsse, Deutschland nicht mit Hilfe der EU einen dritten Anlauf zur Weltmacht unternehmen zu lassen, das lag für die Vereinigten Staaten, aber auch für Großbritannien auf der Hand, als sich Europa im Jahr 1990 gänzlich neu zu sortieren begann und die Bundesrepublik um das Territorium der DDR erweitert wurde. Es war der Zeitpunkt, als sich mit dem Ende der sozialistischen Systeme in Ost- und Südosteuropa, der Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation und dem Ende der Sowjetunion der offizielle Hauptgrund für die Existenz der NATO zu verflüchtigen schien. Nun stellte sich die Frage: Brauchte man das transatlantische Militärbündnis noch, da sein Gegner, wie es ja schien, den Löffel abgegeben hatte; und wenn man es denn noch brauchte, wozu?

Krisenerscheinungen
Die NATO hat im Laufe der Jahre verschiedene Antworten auf diese Frage gefunden, und dabei haben die Interessen ihrer eindeutig stärksten Macht, der USA, stets eine zentrale Rolle gespielt. Zunächst ging es darum, so schildert es das Bündnis in einem Überblick über seine Geschichte, die vergrößerte Bundesrepublik von einem erneuten nationalen Alleingang abzuhalten, deren Einbindung in die NATO ermöglichte dies. Dass die meisten anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) bzw. der Europäischen Union (EU) NATO-Mitglieder waren, erleichterte es Washington auch, einen weiteren Aufstieg der deutsch dominierten EU, von dem erst in Bonn und dann in Berlin immer wieder die Rede war – man wollte »auf Augenhöhe« mit den Vereinigten Staaten gelangen –, zu kontrollieren. Genau dies freilich hat in Teilen des bundesdeutschen Establishments immer wieder das Bestreben genährt, die Fesseln abzuschütteln, die das aufstrebende Deutschland in Form seiner Mitgliedschaft in der NATO an die USA banden. Zufrieden prognostizierte etwa im Herbst 2001 Christoph Bertram, damals Direktor der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): »Die NATO wird an den Rand gedrückt«; »die Europäische Union wird wichtiger werden«. Und um die deutsch dominierte EU weiter gegenüber der NATO zu stärken, drang er darauf, dass die EU nun eigene militärische Kräfte aufbauen müsse, nur so erhalte man echte Macht.

Bertram äußerte dies, als die NATO in den frühen 2000er Jahren schon zum zweiten Mal seit 1990 in einer Existenzkrise geraten war. Die erste, die der Kollaps des ehemaligen Feindes mit sich gebracht hatte, hatte sie nicht nur mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Einbindung Deutschlands überwinden können, sondern auch, indem sie die notwendigen militärischen Mittel zur Neuordnung Südosteuropas bereitstellte. Sie konnte leisten, wozu die EU nicht in der Lage war: in der ersten Hälfte der 1990er Jahre die Kriege im zerfallenden Jugoslawien zu entscheiden sowie 1999 noch das Kosovo von Serbien abzutrennen, und zwar per völkerrechtswidrigem Angriffskrieg. Dabei zeigte sich, dass es gut möglich war, deutsche und US-amerikanische Interessen zu verbinden: Erleichterte die Zerschlagung Jugoslawiens Deutschland – wie schon in den 1940ern –, die neuen Kleinstaaten in Südosteuropa unter Kontrolle zu bekommen, so lag die Tatsache, dass mit Serbien der letzte Verbündete Russlands westlich der ehemaligen Sowjetunion durch die Kriege stark geschwächt wurde, klar im Interesse der USA, die sich zudem mit Camp Bondsteel einen Militärstützpunkt im Kosovo sichern konnten. Dass die NATO allerdings bis heute im Kosovo Truppen stationiert halten muss, um Unruhen zu unterbinden, erweist sich ebenso als Hemmschuh wie die Tatsache, dass Moskau nach wie vor erheblichen Einfluss in Serbien hat.

Langfristig noch gravierendere Auswirkungen hatte die Entscheidung der NATO, das 1990 der Sowjetunion mündlich gegebene Versprechen, sich keinen Zentimeter nach Osten zu erweitern, offen zu brechen und im großen Stil zu expandieren. Auch dies forcierten Bonn und Washington Seite an Seite: Schließlich profitierten beide sehr davon, Moskaus früheres Einflussgebiet in Ost- und Südosteuropa in einer Phase russischer Schwäche so umfassend wie möglich an sich zu binden. Die NATO erfüllte damit, neben der Einbindung Deutschlands und der militärischen Neuordnung Südosteuropas, eine dritte strategische Funktion. Dass sie mit ihrer Osterweiterung Russland systematisch in die Enge trieb, das mochte Strategen gefallen, denen es am Herzen lag, einen etwaigen Wiederaufstieg Moskaus a priori zu verhindern. Andere warnten hingegen, mit der Bündnisexpansion provoziere man ohne Not künftige Spannungen mit einem sich konsolidierenden Russland. George Kennan etwa, der als Mitarbeiter des State Department einst ein führender Stratege des Kalten Kriegs gewesen war, warnte im Februar 1997 in der New York Times, mit ihrer Osterweiterung treibe die NATO die russische Außenpolitik in eine Richtung, die nicht in ihrem Interesse liege. Indem Washington all dem zustimme, begehe es »den verhängnisvollsten Irrtum der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg«. Heute weiß man: Kennan hatte recht.

EU tritt aus dem Schatten
Anfang der 2000er Jahre geriet die NATO erneut in die Krise. Deutschland war fest in den Westen eingebunden, Europa wiederum war auf dem besten Weg, sich nicht nur in der NATO, sondern auch in der EU fest und auf Dauer zusammenzuschließen, und im Südosten des Kontinents schienen die Verhältnisse geregelt: Wozu brauchte man das Militärbündnis noch? Die Frage stellte sich um so mehr, als die EU begann, ebenfalls militärisch aktiv zu werden. Im Jahr 2003 startete sie in Mazedonien mit Eufor »Concordia« ihren ersten eigenen Militäreinsatz in Südosteuropa, im Jahr 2004 löste sie mit der Operation »Althea« in Bosnien-Herzegowina die NATO unmittelbar ab, 2003 und 2006 führte sie ihre ersten Interventionen in Afrika durch – in der Demokratischen Republik Kongo. Zwar war die NATO mit ihren Truppen in Afghanistan im Einsatz, doch wurde der sogenannte Antiterrorkrieg im wesentlichen nicht von ihr, sondern von den Vereinigten Staaten geführt. Über dem Irak-Krieg 2003 entzweiten sich die USA und die Führungsmächte Kontinentaleuropas sogar. Kurz vor dem US-Überfall auf den Irak sah der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Klaus Naumann »die Allianz in ihrer schwersten Krise« seit ihrer Gründung, und selbst das Springer-Blatt Die Welt sah die NATO »politisch gescheitert«: Ihr »Siechtum« scheine »nicht mehr zu stoppen« zu sein. Manche orakelten schon, das Bündnis sei faktisch »tot«.

Die NATO hat auf ihre Sinnkrise und auf die Herausforderung, die die EU-Planungen für eigene, von ihr unabhängige EU-Militäreinsätze für sie darstellten, in den 2000er Jahren mit einer Reihe verschiedener Maßnahmen reagiert. Zum einen orientierte sie zusehends auf Out-of-area-Aktivitäten und auf eine Bündnispolitik jenseits von Europa. Bereits 1994 hatte sie mit ihrer »Partnership for Peace« die Staaten der ehemaligen Sowjetunion bis nach Zentralasien anzubinden begonnen und mit dem sogenannten Mediterranean Dialogue ein Kooperationsformat geschaffen, dem Israel, Jordanien, Ägypten, Tunesien, Marokko, Mauretanien sowie später noch Algerien beitraten. Im Jahr 2004 folgte die Gründung der Istanbul Cooperation Initiative, in deren Rahmen sie mit Kuwait, Katar, Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten locker zusammenzuarbeiten begann. Und sie startete entsprechende Einsätze, so etwa – abgesehen von ihrem großen Einsatz in Afghanistan – im Jahr 2009 die Operation »Ocean Shield«, eine Marineintervention zum Kampf gegen Piraten am Horn von Afrika, mit der sie dort parallel zur EU-Operation »Atalanta« agierte.

Daneben baute sie ihre eigenen Militärstrukturen systematisch aus. Im Jahr 2003 schuf sie mit der NATO Response Force eine Schnelle Eingreiftruppe, die in der Praxis allerdings nicht ernsthaft zum Einsatz kam. Zudem begann sie, verteilt über ihre Mitgliedstaaten sogenannte Centres of Excellence zu errichten – Institutionen, in denen spezifische Elemente der Kriegführung gemeinsam geplant, geübt oder anderweitig vorbereitet wurden, was für die beteiligten Streitkräfte von einigem praktischen Nutzen war. Das erste der Centres of Excellence wurde 2005 mit dem Joint Air Power Competence Centre (JAPCC) in Kalkar am Niederrhein etabliert. Vor allem profitierte die NATO allerdings davon, dass die EU mit ihren Militarisierungsbestrebungen steckenblieb. Ein Beispiel: Die EU Battlegroups, seit dem 1. Januar 2007 voll einsatzbereit, wurden nie genutzt – vor allem, weil Berlin und Paris sich nicht einigen konnten, wo man denn intervenieren solle. Als Frankreich und Großbritannien sich 2011 um Verstärkung für ihre Operationen im Libyen-Krieg bemühten, da griffen sie entsprechend nicht auf die EU, sondern auf die NATO zurück: Das Militärbündnis erwies sich, anders als die Union, in Kriegen als handlungsfähig.

Machtkampf um die Ukraine
Die entscheidende Wende kam 2014 mit der Eskalation des Machtkampfs um die Ukraine. Die NATO hatte diese Eskalation mit herbeigeführt, indem sie nicht nur eine intensive Kooperation mit dem Land eingeleitet, sondern ihm und Georgien auf dem NATO-Gipfel Anfang April 2008 in Bukarest auch die Option zum Beitritt prinzipiell zugesichert hatte. Damit setzte sie ihre in den 1990er Jahren gestartete Expansion nach Ost- und Südosteuropa bis zum äußersten, nämlich bis an die lange Grenze zu Russland, fort. Als nach dem Maidan-Umsturz Ende Februar 2014 in Kiew eine Regierung an die Macht kam, die offen auf den NATO-Beitritt des Landes orientierte, verletzte dies Russlands rote Linien: Moskau sei, um sich verteidigen zu können, historisch stets auf »strategische Tiefe« angewiesen gewesen, räumte noch im November 2021 eine Analyse der Washingtoner Denkfabrik Carnegie Endowment ein; mit »strategische Tiefe« war im Kern ein schützender »Puffer zwischen dem russischen Kernland und mächtigen europäischen Gegnern« gemeint. Den »Puffer« drohte die NATO Moskau nun zu nehmen; und als die Ukraine im Februar 2019 das Ziel eines NATO-Beitritts sogar in ihre Verfassung aufnahm, als die NATO die Ukraine im Juni 2020 zu einem Enhanced Opportunities Partner erklärte, mit dem sie besonders eng kooperieren wollte, und als auch noch mehrere NATO-Staaten, etwa die USA und Großbritannien, begannen, die Ukraine systematisch aufzurüsten und auf einen Krieg mit Russland vorzubereiten, da wurde es aus russischer Sicht allzu ernst. Die Folgen sind bekannt.

Seit Russland im März 2014 in einer ersten Reaktion auf den Maidan-Umsturz die Krim aufnahm und sich damit als Macht positionierte, die – wie zuvor der Westen im ehemaligen Jugoslawien – die Fähigkeit besitzt, Grenzen in Europa zu verändern, kehrt die NATO zu ihren Ursprüngen zurück: zum Kampf gegen Moskau bzw. gegen eine Macht im Osten, die zwar nicht mehr wie einst die Sowjetunion ein Systemrivale ist, die aber dennoch die Dominanz des Westens ernsthaft attackiert. Die NATO begann, sich also erneut gegen Russland in Stellung zu bringen. Die ersten Schritte dazu tat sie auf ihrem Gipfel Anfang September 2014 in Newport (Wales). Dort beschloss sie unter anderem den Aufbau einer besonders schnell einsetzbaren Eingreiftruppe, ihrer Very High Readiness Joint Task Force (VJTF, NATO-»Speerspitze«). Außerdem ging sie daran, entlang ihrer Ostflanke eine Art Minihauptquartiere aufzubauen, die NATO Force Integration Units (NFIUs), die im Kriegsfall die ersten wichtigen logistischen Vorbereitungen für einfliegende Kampftruppen treffen können. Ab Anfang 2017 kam dann der Aufbau der sogenannten enhanced Forward Presence (eFP) hinzu, die Stationierung weit vorgeschobener Bataillone, die sich im Baltikum und in Polen gegen Russland positionierten. Die Bundeswehr war von Anfang an im litauischen Rukla mit dabei.
Nach Russlands Angriff auf die Ukraine verstärkte die NATO ihren Aufmarsch an ihrer Ostflanke erheblich. Der 24. Februar 2022 hatte strategisch tatsächlich etwas gänzlich Neues gebracht: Moskau stellte nun nicht mehr nur das Monopol der NATO in Frage, Grenzen in Europa neu zu ziehen, sondern auch ihr bisheriges Privileg, über Krieg und Frieden auf dem Kontinent zu entscheiden wie 1999 in Jugoslawien. Gelänge es der NATO nicht, Russlands Krieg zum Scheitern zu bringen, dann wäre es mit ihrer alleinigen Dominanz in Europa vorbei. Entsprechend begannen die NATO-Mitgliedstaaten, die Ukraine im Krieg gegen Russland mit allen nur denkbaren Mitteln zu stützen. Das Bündnis selbst begann seine Positionen an seiner Ostflanke noch massiver auszubauen als zuvor, um den Druck auf Moskau zu erhöhen. Die vier Bataillone im Baltikum und in Polen wurden zu Brigaden aufgestockt und um Truppen in Rumänien und in Bulgarien erweitert. Die NATO Response Force, die zuletzt gut 40.000 Soldaten umfasst hatte, wurde erweitert; ihre neue Zielgröße lag bei 300.000. Die Rüstungsbudgets, 2014 in Wales auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung orientiert, wurden rapide in die Höhe geschraubt. Großmanöver für den Aufmarsch gegen Russland hatten zwar schon vor 2022 begonnen, wurden nun aber weiter intensiviert. Deutschland erhielt dabei die Funktion einer Drehscheibe für aus dem Westen in Richtung Osten marschierende NATO-Truppen.

Die NATO ist also am 75. Jahrestag ihrer Gründung im Kern wieder dort angelangt, wo sie 1949 stand: im Kampf gegen Moskau. Freilich gibt es Unterschiede – sogar bedeutende. Der erste: Die Ostflanke der NATO liegt viel weiter im Osten. Faktisch verläuft sie zur Zeit, wenn man so will, mitten durch die Ukraine, nämlich dort, wo sich die russischen und die von den NATO-Staaten unterstützten ukrainischen Truppen gegenüberstehen. Der zweite: Der Kampf gegen Moskau vollzieht sich heute nicht nur in einem kalten, sondern in der Ukraine auch in einem heißen Krieg. Der dritte: Das globale Umfeld hat sich tiefgreifend gewandelt. Die Staatenwelt wird nicht mehr vom Gegensatz zwischen der »Ersten«, der kapitalistischen, und der »Zweiten«, der sozialistischen Welt dominiert, neben der es allenfalls noch eine »Dritte Welt« der blockfreien Länder geben kann. Sie bewegt sich vielmehr hin auf eine multipolare Welt, und der stärkste Rivale des Westens ist dabei nicht mehr die Sowjetunion beziehungsweise deren Nachfolgestaat Russland, sondern die Volksrepublik China. Und ein vierter, gleichfalls bedeutender Unterschied: Die NATO ist heute durch womöglich stärkere innere Konflikte geprägt als zuvor.

Was den dritten Punkt anbelangt: Wenngleich die NATO sich – das schon aus Gründen der Geographie – weiterhin auf den Machtkampf gegen Russland fokussiert, gewinnt für sie doch auch der Machtkampf des Westens gegen die neue Großmacht China zusehends an Gewicht. Seit den 2000er Jahren, verstärkt ab 2012 – kurz nachdem US-Präsident Barack Obama im November 2011 den »Pivot to Asia« verkündet hatte – ist das Bündnis um den Ausbau seiner Beziehungen zu seinen partners across the globe bemüht, Staaten, zu denen vor allem Länder in der Asien-Pazifik-Region gehören, nämlich Japan und Südkorea, Australien und Neuseeland. Mit Australien, das bereits zuvor Soldaten etwa für den NATO-Einsatz in Afghanistan zur Verfügung gestellt hatte, schloss sie im Juni 2012 eine Vereinbarung zur engeren Kooperation; eine weitere Vereinbarung folgte im April 2013 mit Japan. Vor allem die Vereinigten Staaten sind bis heute um eine Intensivierung der Zusammenarbeit bemüht, während die Staaten Europas zuweilen ein wenig bremsen: Sie wollen die Kapazitäten der NATO denn doch eher in Europa nutzen. Pläne zum Beispiel, ein offizielles NATO-Büro in Tokio zu eröffnen, scheiterten zuletzt an europäischem Widerstand. Klar ist dennoch: Sollte der Machtkampf des Westens gegen China in einen Krieg eskalieren, dann hätte die NATO nicht nur enge Verbündete in der Asien-Pazifik-Region; sie wäre dort auch militärisch involviert.

Risse im Bündnis
Und was den vierten Punkt anbelangt: Konflikte zwischen NATO-Staaten, darunter auch ernsthafte, hat es immer gegeben, spätestens, seitdem das Bündnis 1952, lediglich drei Jahre nach seiner Gründung, mit Griechenland und der Türkei zwei solide verfeindete Staaten aufnahm. Sogar Waffenembargos wurden zwischen NATO-Staaten verhängt: Nach dem Einmarsch türkischer Truppen 1975 nach Zypern beschloss Washington in aller Form, kein Kriegsgerät mehr an Ankara zu liefern. Das führte dazu, dass eine Weile sogar über einen Austritt der Türkei aus der NATO spekuliert wurde. Deutliche Spannungen zwischen der Türkei und den anderen NATO-Staaten gibt es heute erneut. Das zeigte sich zuletzt daran, dass Ankara den NATO-Beitritt Finnlands und vor allem Schwedens über längere Zeit blockierte. Anders als bei früheren Streitigkeiten stand es dabei allerdings nicht allein: Ungarn unterstützte die Türkei dabei. Aktuell zeigen die Reibereien um die Frage, wer der nächste Generalsekretär des Bündnisses werden soll, dass die Differenzen im Bündnis zunehmen: Weil der Kandidat der USA, Großbritanniens und Deutschlands, der niederländische Exministerpräsident Mark Rutte, es sich mit mehreren Staaten Ost- und Südosteuropas verdorben hat, tritt Rumäniens Präsident Klaus Johannis nun gegen ihn an. Das zeigt: Die östlichen Staaten wollen sich künftig nicht mehr bedingungslos den Führungsmächten am Atlantik unterordnen.

Nehmen die Konflikte innerhalb der NATO also zu, könnten sie bei einem etwaigen Wahlsieg von Donald Trump in den USA eskalieren. Bereits während Trumps erster Präsidentschaft führten seine Abneigung dagegen, militärische Mittel im reichen Europa zu verausgaben, sowie seine rücksichtslose Durchsetzung von US-Interessen dazu, dass unter den europäischen NATO-Staaten ganz erheblicher Unmut entstand. Im November 2019 diagnostizierte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gar den »Hirntod« des Bündnisses. Das Zerwürfnis ließ sich kitten. Wie aber werden sich die Dinge in einer möglichen zweiten Amtszeit von Trump entwickeln? Die Wellen schlugen hoch, als der Präsidentschaftskandidat im Februar drohte, er werde NATO-Staaten, die nicht genug Geld in ihr Militär steckten, »nicht beschützen«, und statt dessen Russland »sogar ermutigen zu tun, was auch immer zur Hölle sie wollen«. Dass Trump einige Wochen später erklärte, er meine das gar nicht so ernst, es handle sich nur um eine spezielle Verhandlungstaktik, machte das die Sache nicht viel besser. Und man kann denn auch nicht ausschließen, dass die NATO sich nach Ablauf ihres Jubiläumsjahrs, falls Trump erneut ins Weiße Haus einziehen sollte, verstärkten Bestrebungen ihrer europäischen Mitglieder gegenübersieht, es doch noch mal ernsthaft mit dem Aufbau von EU-Streitkräften zu versuchen – für den Fall der Fälle, als Alternative zum Militärbündnis mit den U

https://www.jungewelt.de/artikel/472670.geopolitik-im-kampf-gegen-moskau.html
Aus: Ausgabe vom 04.04.2024, Seite 12 / Thema

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